11.07.2023 Rezension von J O H A N N A   E M E L I E   M A R Q U A R D T

  • Birgit Hickey, Wie die Familie unser Leben bestimmt - Genogramm und systemische Aufstellungen, Heidelberg 2023, Carl-Auer Verlag, ISBN 978-3849704438

 

… Oder auch: „359 Seiten, die einen spannenden Blickwinkel auf die eigene Lebensgeschichte erlauben“. Dieses Fachbuch schafft es, fundiertes Wissen zur familienbiografischen Genogrammarbeit, bildhafte Fallbeispiele und eingängige Skizzen so zu vereinen, dass es regelrecht zu einer üppig gefüllten Schatzkiste wird. Trotz komplexer Themenfelder wie etwa „Generationsübergreifendes Weiterwirken eines Schwangerschaftsabbruches“ oder „Eheprobleme durch Stellvertretungen ungelebter Lieben der jeweiligen Eltern“, gelingt es der Autorin, anhand eines verständlichen, klaren Schreibstils und regelmäßigen Beispielen, Licht ins Dunkle zu bringen und Zugang zu einem in meinen Augen sehr bedeutungsvollen Zweig zu schaffen. Oftmals begegnen uns im Leben Herausforderungen und Themen, vorerst ohne erkennbaren Auslöser. Wir tragen Muster, niederdrückende Glaubenssätze und wenig konstruktive Verhaltensweisen mit uns herum, die irgendwann die Fragen aufwerfen können: Woher habe ich all das, was mich zum Teil (stark) belastet, eigentlich? Und warum werde ich es nicht los, egal, wie sehr ich mich darum bemühe? „Wie die Familie unser Leben bestimmt – Genogramm und systemische Aufstellungen“ setzt genau an jenem Punkt an und beleuchtet den individuellen Menschen vor dem Hintergrund seines Familiensystems. Wir bekommen mit diesem Buch Vorschläge zum grundsätzlichen Aufbau der systemischen Arbeit, was allgemeine Kommunikationstechniken und die Methodik des Genogramms einschließt und auf eine einprägsame Weise aufbereitet wurde. So findet man unter anderem eine Tabelle, die eine problemfokussierte Sprache ganz praktisch in die Lösungsorientierung transformiert oder auch eine Darstellung von Symbolen für die Arbeit mit Genogrammen inklusive Beschreibung. Die hieran anknüpfende Checkliste, beginnend auf Seite 55, vereinfacht die Erhebung familienbiografischer Daten und beeinflusst darüber hinaus alle weiteren Schritte bis hin zur systemischen Aufstellung positiv. Aber nicht nur das. Schon während des ersten Lesens findet nahezu automatisch eine flächendeckende Selbstreflexion statt, die zur Sensibilisierung des eigenen Sprachgebrauchs führt, einschneidende Fragen in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen sowie auf das Selbst beantwortet und das Buch letztlich in ein regelrechtes Abenteuer verwandelt.

Es war spannend, zu erleben, wie Birgit Hickey aufschlüsselt, welche Themen Erst-, Zweit oder Drittgeborene typischerweise übernehmen und dabei auf jahrelang gesammelte Daten in ihrer eigenen Praxis zurückgreift. Immerzu bezieht sie den Austausch mit praktizierenden Kolleginnen und Kollegen im systemischen Bereich ein, was für mich ein großes Qualitätsmerkmal darstellt. Ebenfalls positiv hervorzuheben ist, dass gemachte Aussagen nicht als Absolutismus, sondern als Hypothesen zu bewerten sind. So bleibt der Blick trotz zum Teil massiver Erkenntnisse und bis ins kleinste Detail extrahierter Zusammenhänge offen dafür, dass Abweichungen und Unterschiede durchaus auftreten können und bei der systemischen Arbeit nicht ausgeklammert werden sollten.

Beim Lesen des Buches erhält man schnell das Gefühl, dass die Autorin sehr viel Herzblut, Ausdauer und Zeit investiert hat. Etliche Aspekte werden nicht nur grob und überschriftsartig beleuchtet, sondern die Leserschaft kommt in den Genuss feiner Abstufungen. Zur Verdeutlichung: Das Kapitel „Unerfüllter Kinderwunsch“ umfasst neben globalen Informationen auch die Überschriften „Systemische Zusammenhänge bei unerfülltem Kinderwunsch von Frauen“ und „Systemische Zusammenhänge bei unerfülltem Kinderwunsch von Männern“, ebenfalls „Paarprobleme“, „Patchworkfamilien“ und viele weitere Gebiete werden tiefgreifend und breit gefächert analysiert.

Weil der verantwortungsbewusste Umgang mit Traumen Wissen hierzu voraussetzt, zeugt für mich von fachlichem Wert, dass die Autorin auch diese Sparte nicht außer Acht gelassen hat. Neben einer präzisen Definition des Begriffes informiert sie, welche Symptome auf ein Trauma hindeuten können und welchen Gesichtspunkten in der Traumatherapie eine besondere Bedeutung zukommen.

Dass Birgit Hickey ihre Leserschaft am Schluss des Buches auf einen Exkurs in die Epigenetik einlädt, untermauert ihre Erkenntnisse und liefert mögliche Erklärungen für das Phänomen transgenerationaler Übernahmen und Schicksalsbindungen. Ein Feld, das mich immer wieder sehr beeindruckt und dem durch diese Publikation mehr Fläche und Aufmerksamkeit zuteil wird.

Hier liegt uns ein Fachbuch vor, das sicher ein zuverlässiger Begleiter für Menschen ist, die bereits im beratenden Bereich tätig sind oder die wie ich eine Ausbildung zur systemischen Beraterin/ Aufstellerin belegen. Darüber hinaus stellt es meines Empfindens nach auch im Privatgebrauch eine spannende Möglichkeit dar, das eigene Selbst- und Weltverständnis zu erweitern.

Meinen herzlichen Dank für dieses Werk.


Kommentar